Neue Quartiere für eine Zwergfledermaus-Wochenstube in Nürtingen

Bei Untersuchungen im Vorfeld eines geplanten Abrisses eines Firmengebäudes in Nürtingen (Baden-Württemberg) wurde eine Wochenstube der Zwergfledermaus festgestellt. Diese besiedelte das Gebäude bereits über mehrere Jahre (erstmals 2014 nachgewiesen, bei erneuten Erfassungen 2018 bestätigt). Als Quartiere nutzen die Fledermäuse Spalten und Hohlräume hinter der Fassadenverkleidung sowie Rolladenkästen in vielen unterschiedlichen Bereichen dieses Gebäudes.

Die Zwergfledermaus ist in Deutschland streng geschützt. Es ist verboten, Tiere dieser Art zu töten, zu verletzen, ihre Quartiere zu zerstören oder ihre lokalen Populationen zu stören. Sie müssen daher bei Abrissvorhaben und bei Sanierungen berücksichtigt werden. Wochenstubenvorkommen sind hierbei von besonderer Bedeutung.

Unter einer Wochenstube versteht man eine Fortpflanzungskolonie weiblicher Fledermäuse, in der die Jungen geboren und aufgezogen werden. Der Begriff „Wochenstube“ wird sowohl für die Weibchen und ihre Jungtiere („Wochenstubentiere“) als auch für das Quartier, in dem sich die Tiere aufhalten („Wochenstubenquartier“) verwendet.

Es wurde ermittelt, dass bei dem geplanten Abriss Zwergfledermaus-Quartiere in einem Umfang von ca. 100 m² Quartierfläche zerstört würden. Nach detaillierten Abstimmungen mit den zuständigen Behörden wurden zum vorgezogenen Ausgleich – um die Funktion möglichst ohne zeitliche Lücke zu sichern – im Frühjahr 2019 Ersatzquartiere an zwei Gebäuden der nahegelegenen Philipp-Matthäus-Hahn-Schule angebracht. Hierbei wurde insbesondere auf Folgendes geachtet: Nähe zum Abrissgebäude, große Quartierfläche (mindestens im Umfang der ursprünglichen Quartiere), freier Anflug, keine direkte Beleuchtung, Anbringung in unterschiedlichen Expositionen, so dass den Zwergfledermäusen bei verschiedenen Witterungsverhältnissen vielfältige Wechselmöglichkeiten zwischen den angebotenen Quartieren zur Verfügung stehen.

Die Maßnahmenumsetzung erfolgte mit großem zeitlichem Vorlauf zum Abriss (> 2 Jahre). Dennoch konnte zum damaligen Zeitpunkt nicht mit Sicherheit von einer schnellen Besiedelung der Ersatzquartiere ausgegangen werden. Daher wurde das Projekt im Rahmen einer artenschutzrechtlichen Ausnahme durchgeführt.

Konkret wurden ausgewählte Fassadenabschnitte der Schulgebäude im oberen Bereich über ihre komplette Länge mit untereinander verbundenen Spaltenquartieren versehen. Alle Ersatzquartiere wurden in einer an die örtlichen Gegebenheiten angepassten, inzwischen patentierten Modulbauweise konstruiert und durch ein Fachbüro für Statik bemessen. Durch den modularen Aufbau der Quartiere war es möglich, auf Gebäudelängen sowie bautechnische Gegebenheiten individuell zu reagieren. Durch Modifizierung lassen sich derart konzipierte Quartiere auch in die vorhandene Fassadengestaltung einbinden. Die Quartiere wurden „doppelstöckig“ angelegt, d. h. mit je zwei übereinander liegenden, unterschiedlich tiefen Quartierräumen (rd. 18 mm und rd. 24 mm) und sind im Inneren durch Leisten gekammert.

Seit Umsetzung der Maßnahmen wird im Rahmen eines Monitorings über einen Zeitraum von zehn Jahre überprüft, ob und wie die Ersatzquartiere von der Zwergfledermaus-Wochenstube angenommen werden. Hierbei werden Fledermausdetektoren, Nachtsichtgeräte und z. T. auch Infrarot-Kameras genutzt, um die Tiere besser beobachten und zählen zu können. Bereits im ersten Jahr konnten Zwergfledermäuse in den neuen Quartieren nachgewiesen werden, darunter auch Weibchen mit ihren Jungtieren. Seitdem kehrt die Wochenstube jedes Jahr in die Ersatzquartiere zurück. Zu den Ergebnissen werden Fachveröffentlichungen erfolgen.
Neben Zwergfledermäusen nutzen bisher auch einzelne Mücken- und Weißrandfledermäuse die Ersatzquartiere.

Der Abriss des Gebäudes mit den ursprünglichen Quartieren erfolgte im Winter 2021/2022 unter Begleitung durch eine Fledermausexpertin. In dieser Zeit nutzte die Kolonie andere Quartiere für den Winterschlaf; am Abrissgebäude konnten keine Fledermäuse festgestellt werden. Sollten Bau- oder Sanierungsarbeiten an den Schulgebäuden mit den neuen Quartieren anstehen, müssten diese bereits im Planungsstand artenschutzfachlich begleitet werden, damit die Zwergfledermaus-Wochenstube nicht beeinträchtigt wird.